23:47 Uhr – Die letzte Stille
Ich stehe vor meiner Haustür. Es ist 23:47 Uhr am 31. Dezember.
Noch dreizehn Minuten bis Mitternacht. Die ersten Raketen sind schon gestartet – vereinzelt, irgendwo aus dem Viertel. Ein Test der Systeme. Der Himmel blinkt kurz auf. Ein Kind kreischt vor Freude. Irgendwo wird Sekt entkorkt.
Aber in dieser Minute – genau jetzt – ist es fast still.
Ich höre Geräusche, die sonst untergehen: das leise Summen der Straßenlaterne gegenüber von mir. Ein Auto zwei Straßen weiter. Einen Hund, der kratzt. Meinen eigenen Atem. Diese Stille ist so ungewohnt geworden, dass sie sich fast unwirklich anfühlt – als hätte jemand die Nacht angehalten, um sie mir zu zeigen, bevor das Chaos beginnt.
Ich weiß, dass ich diese Stille gleich verlieren werde. Ab Mitternacht – für zwei, vielleicht drei Stunden. Sie wird überlagert sein von einer Knallerei, so dicht und allgegenwärtig, dass sie nicht mehr wie ein Ereignis wirkt, sondern wie ein Naturphänomen. Wie ein Hagelsturm. Unvermeidbar. Alternativlos.
In wenigen Minuten werde ich das nicht mehr als meine Entscheidung erleben, sondern als Schicksal.
Wie ich lernte, diese Nacht anders zu sehen
Ich kenne die Argumente. Ich bin damit aufgewachsen, dass Silvester so sein muss. Knallerei als Tradition, als Freiheit, als Spaß – drei große Worte, die selten hinterfragt werden. Auch ich habe als Kind Wunderkerzen gehalten, habe den Adrenalinrausch gespürt, wenn Raketen explodierten und weiße Sterne im Blickfeld verglühten. Irgendwann – ich kann nicht genau sagen, wann – habe ich begonnen, diese Nacht anders zu sehen.
Nicht anklagend. Nur anders.
Es begann mit der Erkenntnis, dass diese Nacht nicht für alle gleich ist. Viele Menschen wollen Silvester feiern: mit Familie, mit Freunden, draußen, mit Musik und gutem Essen. Aber ohne Knallerei. Sie wollen nicht in ihren Wohnungen sitzen, mit Ohrstöpseln, bei geschlossenen Fenstern. Sie wollen feiern – nur eben anders.
Doch die Knallerei kommt zu ihnen. Sie dringt ein, egal wie sehr man versucht, sie draußen zu halten. Also bleiben viele drinnen, statt draußen zu sein. Das ist Realität.
Vor ein paar Jahren wollte ich an Silvester das Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen. Ich konnte es nicht. Rundherum wurde Feuerwerk gezündet, der Rauch hing so dicht, dass die Umgebung in einem grauen Nebel verschwand. Als ich das Fenster öffnete, strömte sofort alles hinein: der Gestank, der Feinstaub, die Rückstände des Spektakels. Die Knallerei war so laut, dass ich das Fenster wieder schließen musste. Ich saß in meiner eigenen Wohnung – und konnte nicht lüften.
In diesem Moment stellte ich mir eine einfache Frage: Wem gehört diese Nacht eigentlich? Wem gehört in diesem Moment die Luft zum atmen?
Die Antwort war ernüchternd klar: denen, die am meisten böllern.
Die Knallerei geht nicht spurlos vorbei
Das Problem mit der Knallerei ist: Sie lässt sich nicht ignorieren. Man kann sich nicht abmelden. Man kann nicht sagen: Nicht bei mir. Sie fragt nicht nach Zustimmung.
Und in dieser einen Nacht haben wir kollektiv akzeptiert, dass das okay ist.
Aber es ist nicht okay für alle.
Da sind die Schichtarbeiter:innen, die in wenigen Stunden wieder raus müssen. Alte Menschen, die mit Herzproblemen im Bett liegen und jede Explosion körperlich spüren. Eltern von Neugeborenen, die gerade eingeschlafen sind. Menschen in Krankenhäusern – ja, mit Doppelfenstern, und trotzdem findet der Lärm seinen Weg hinein.
Und dann sind da die Tiere. Die eigenen, die sich in der Wohnung zusammenkauern, weil sie nicht verstehen, was passiert. Die wilden Tiere in Parks und Wäldern, für die diese Nacht eine akute Bedrohung ist. Tierärzt:innen berichten jedes Jahr von Panikreaktionen, Verletzungen, Fluchtfolgen.
Auch Menschen zahlen einen Preis. In den Notaufnahmen werden in dieser Nacht Verletzungen behandelt, die sonst kaum vorkommen. Im Jahresdurchschnitt werden täglich rund 26 Menschen mit schweren Verletzungen durch Explosionen stationär aufgenommen. Am Neujahrstag sind es etwa 100 – das Vierfache. Amputierte Finger. Augenverletzungen mit dauerhaften Schäden. Schädelbrüche. Verbrennungen.
Beim letzten Jahreswechsel wurden mehrere Kinder schwer verletzt. Menschen starben.
Das alles ist vorhersehbar. Es passiert jedes Jahr. Die Kliniken rüsten auf, Rettungsdienste stellen Zusatzschichten, Notaufnahmen arbeiten am Limit. Und trotzdem behandeln wir das als akzeptablen Preis. Als Kollateralschaden einer Tradition.
Solange es uns nicht selbst trifft.
Die unbequeme Frage nach Freiheit
Ich will nicht sagen, was man verbieten sollte. Ich sehe die Menschen draußen, die lachen, sich umarmen, diesen Moment genießen. Diese Freude ist real. Sie ist nicht weniger wert, nur weil sie mit Knallerei verbunden ist.
Aber es gibt einen Unterschied zwischen: Diese Nacht gehört mir
und: Diese Nacht gehört meiner Freiheit, so wie ich sie gerade definiere.
Der erste Satz ist ein Moment.
Der zweite ist Macht.
Eine aktuelle repräsentative Umfrage zeigt: Rund 60 Prozent der Menschen in Deutschland sprechen sich für ein Verbot privaten Feuerwerks aus. Das ist keine kleine Minderheit. Das ist eine klare Mehrheit. Und trotzdem läuft die Knallerei jedes Jahr weiter, als wäre diese Mehrheit unsichtbar.
Das irritiert mich. Nicht, weil eine Tradition verteidigt wird – sondern weil eine Minderheit faktisch die Mehrheit übertönt. Im wörtlichen Sinne.
Und daran haben wir uns gewöhnt. Jahr für Jahr. Wer nicht mitmacht, passt sich an. Kauft Ohrstöpsel. Fährt weg. Erträgt es. Es wird zum individuellen Problem – nicht zur gemeinsamen Frage.
Das ist keine offene Gewalt.
Es ist eine Form von Macht, die sich als Normalität tarnt.
23:54 Uhr – Das Chaos baut sich auf
Es ist 23:54 Uhr. Die Knallerei nimmt zu. Keine einzelnen Explosionen mehr, sondern Serien. Die Pausen verschwinden. Es fühlt sich an wie ein Orkan, der sich aufbaut.
Ich denke nicht mit Zorn. Ich bin traurig. Traurig darüber, wie selbstverständlich dieses Ritual geworden ist. Nicht, weil alle es wollen – viele stellen es seit Jahren infrage – sondern weil diesem Hinterfragen kaum Raum zur Wirkung bleibt. Es passiert, weil es immer passiert ist. Und weil Zweifel allein es nicht aufhalten, fühlt es sich an, als gehöre es einfach dazu. Und weil es dazu gehört, werden all jene, die anders empfinden schlicht übertönt.
Die Frage bleibt
Ich weiß, dass dieser Text provoziert. Manche werden sagen: Stell dich nicht so an. Andere: Dann mach doch die Fenster zu. Aber ich sollte meine Fenster nicht schließen müssen. Das ist der Kern. Es geht nicht darum, wie man sich anpasst. Es geht darum, warum wir akzeptiert haben, dass Anpassung notwendig ist.
Ich sage nicht, dass Feuerwerk verboten gehört. Aber ich frage: Warum erlauben wir an dieser einen Nacht etwas, das wir an allen anderen Tagen nicht zulassen würden?
Vielleicht gibt es gute Gründe. Vielleicht ist Tradition stärker als Logik. Aber genau deshalb lohnt es sich, diese Frage zu stellen. Ehrlich. Ohne Reflexe.
00:00 Uhr – Was bleibt?
Es ist 23:58 Uhr. Ich höre das Rückwärtszählen. Ich werde gleich reingehen. Die Fenster schließen. Musik anmachen. Abwarten, bis es vorbei ist. Nicht aus Zustimmung, sondern weil mir gerade die Kraft zum Kämpfen fehlt. Ertragen statt kämpfen. Gegen so tief verankerte Rituale anzukommen ist mühsam – sie fraglos hinzunehmen allerdings auch.
Es ist nicht diese Nacht, die das Problem ist. Die Silvesternacht an sich könnte lebhaft, gemeinschaftlich, verbindend sein. Es ist die Knallerei, die sie überlagert – und damit das gesellschaftliche Miteinander in dieser Nacht dominiert, statt ihm Raum zu lassen.
Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem wir diese Nacht nicht mehr als unvermeidlich begreifen, sondern als Entscheidung. Nicht durch Verbote, sondern durch ein anderes Verständnis von Freiheit. Eines, das Rücksicht nicht als Einschränkung versteht, sondern als gemeinsamen Raum.
Es ist 00:00 Uhr.
Die erste Rakete hebt ab.
Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn nach kurzer Zeit wieder Stille einkehren würde – nicht, weil das Feuerwerk vorbei ist, sondern weil niemand die Knallerei gebraucht hätte, um das Jahr zu begrüßen.
Wäre das neue Jahr weniger wert?
Oder würde es sich einfach anders anfühlen?
Diese Fragen werden bleiben. Über diese Nacht hinaus.

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