WIR - Miteinander - Gemeinsam

#Zeitreise – Zwischen Liedtext und Realität: Wie weit wir zurückgefallen sind

Ich war fast 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal das Lied „Brüder“ von PUR hörte. Es war 1990 – eine Zeit des Wandels, der Unsicherheit, aber auch der Hoffnung. Die Mauer war gerade gefallen, Europa rückte enger zusammen, und irgendwo zwischen all den Nachrichten über Umbrüche und Aufbrüche lief mir dieses Lied über den Weg. Ich erinnere mich, wie ich auf einer Wiese saß – Kopfhörer auf den Ohren, den Blick in den Himmel gerichtet – und wie mich diese eine Zeile mitten ins Herz traf:

„Stell dir vor, dass Brüder endlich Brüder sind.“

In diesem Moment fühlte sich alles möglich an. Die Vorstellung, dass Menschen sich als Schwestern und Brüder begegnen könnten, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Lebensweise, war für mich kein kitschiger Traum, sondern ein echtes Ziel. Ich spürte zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich mir eine Welt wünsche, in der das Miteinander zählt – nicht das Trennende. Ich glaubte daran, dass meine Generation die Kraft hat, es besser zu machen. Dass wir aus der Geschichte lernen würden, dass wir gerechter, menschlicher, solidarischer leben könnten. PUR gaben dieser Hoffnung eine Stimme – leise, eindringlich, ehrlich.

Heute: Ernüchterung nach 35 Jahren

Heute sind 35 Jahre vergangen. Ich bin erwachsen geworden, politisch aktiv, mitten im Leben. Und wenn ich „Brüder“ heute wieder höre, dann tut es weh. Nicht, weil das Lied alt ist. Im Gegenteil – es klingt erschreckend zeitlos. Und genau das ist das Problem. Es müsste heute längst überholt sein. Ein schönes Erinnerungsstück aus einer Zeit, in der wir noch lernen mussten, wie Zusammenleben funktioniert. Aber es ist aktueller denn je. Immer noch brüllen Menschen Hassparolen durch unsere Städte. Immer noch sterben Menschen auf der Flucht, weil ihnen Mitgefühl verweigert wird. Immer noch werden Menschen ausgeschlossen, beleidigt, benachteiligt – allein wegen ihres Namens, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Glaubens. Immer noch sind Chancen in unserem Land ungleich verteilt – von klein auf. Und immer noch ist das „Wir“ fragil. Kaum ausgesprochen, wird es von Misstrauen, Angst und populistischer Hetze wieder infrage gestellt.

Ich frage mich oft: Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass ein Lied aus dem Jahr 1990 auch im Jahr 2025 wie ein Weckruf klingt? Dass seine Zeilen noch immer nicht Wirklichkeit geworden sind? Ich hatte damals geglaubt, wir würden weiter sein. Dass die Welt heute gerechter, offener, mitfühlender ist. Doch stattdessen sehe ich, wie sich alte Muster wiederholen. Wie kalte Parolen wieder lauter werden. Wie Mauern wieder wachsen – in den Köpfen, in den Herzen, in der Gesellschaft.

Und jetzt: Haltung zeigen – Mensch bleiben

Und trotzdem – oder gerade deswegen – gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ich will nicht abstumpfen. Nicht zynisch werden. Nicht das Herz verschließen, nur weil es schmerzt. Denn ich weiß, da draußen gibt es viele, die fühlen wie ich. Die diese Sehnsucht teilen nach einer Welt, in der das Menschsein im Mittelpunkt steht. Die sich dem Hass entgegenstellen. Die für Gerechtigkeit aufstehen – jeden Tag, oft leise, aber mit Haltung.

Für sie – und für das „Wir“, das nie ganz verschwunden ist – schreibe ich diese Zeilen. Weil ich glaube, dass wir mehr sind. Dass wir nicht allein sind. Und dass es unsere Aufgabe ist, laut zu sein, wenn andere verstummen. Klar zu bleiben, wenn alles verschwimmt. Menschlich zu handeln, wo es am unbequemsten ist.

Wer einmal gespürt hat, wie sich echte Verbundenheit anfühlt, darf nicht schweigen, wenn Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Wer einmal gehofft hat, trägt Verantwortung – nicht nur für sich, sondern für alle, die keine Stimme haben oder sie zu oft nicht gehört wird. Ich will diese Verantwortung annehmen. Nicht aus Pflicht, sondern aus Überzeugung. Nicht, weil es einfach ist – sondern weil es richtig ist.

„Brüder“ hat mich geprägt. Es hat mir gezeigt, wie stark ein Lied sein kann. Wie sehr ein einziger Satz ganze Welten in Bewegung setzen kann. Und auch wenn mich der Blick zurück enttäuscht – weil so vieles noch immer nicht erreicht ist – so ist dieser Satz für mich auch heute noch ein Versprechen: „Stell dir vor, dass Brüder endlich Brüder sind.“ Ich stelle es mir noch immer vor. Und ich werde nicht aufhören, daran zu erinnern.

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